Selbstverbesserung zum Jahreswechsel

Neues Jahr, neue Vorsätze – und wieder drohen Scheitern, Enttäuschung und Frustration.
Dabei braucht es nicht viel, um nicht nur den richtigen Kurs zu setzen, sondern auch zu halten: Etwas zum Schreiben, ein bisschen Zeit und ein paar grundlegende Strategien.

Hier ist das Starterpaket für erfolgreiche Neujahrsvorsätze.


Das Erwachsenerwerden ist grundsätzlich ein schleichender Prozess. Niemand wacht eines Tages auf und bemerkt, dass er über Nacht erwachsen geworden ist.

Das bedeutet aber nicht, dass du dich davon überraschen lassen musst, was für ein Mensch du wirst oder was für ein Leben du führst. Auf beides haben deine täglichen Gewohnheiten, Routinen und Entscheidungen erhebliche Auswirkungen.

Der Jahreswechsel bietet aufgrund des sogenannten Fresh Start Effect eine ideale Gelegenheit, mittels guter Vorsätze genau diese Einflussfaktoren bewusst und systematisch zu überarbeiten.

Grundsätzlich sind Neujahrsvorsätze eine gute Sache. Sie zeugen davon, dass du mit kritischen Blick auf die eigene Lebensführung Änderungsbedarf festgestellt hast und bereit bist, an dir zu arbeiten.

Aber leider scheitern sie oft und viel zu schnell. Je nach Studie haben 81-93% aller Menschen zu Ende Januar ihre guten Vorsätze aufgegeben. 1

Mit Motivation allein kommen wir also nicht weit.
Mit Motivation ist es ähnlich wie mit Talent: Sie verschafft einen Vorsprung vor denjenigen, die sich nicht haben – aber sie führt nicht zuverlässig zu langfristigen Erfolgen.

Dafür braucht es ein paar bewährte Vorgehensweisen, um sich mit Neujahrsvorsätzen nicht zu übernehmen oder mit viel Elan die falsche Leiter hochzuklettern.

„Lehnt die Leiter nicht an der richtigen Wand, bringt uns jeder weitere Schritt nur noch schneller an den falschen Ort.“ (Stephen R. Covey)


I) Strategische Vorbemerkungen

Gewohnheiten und Vorsätze sind eine zweischneidige Sache.

Auf der einen Seite bestimmen die vielen kleinen Entscheidungen, die wir tagtäglich treffen, in erstaunlichem Umfang unsere Lebensqualität – von Ernährung und Sport über die Pflege von Freundschaften oder unserer Lebenspartnerschaft bis hin zur Selbstverwirklichung, bspw. in Form von einer kreativen Tätigkeit.

Mit dieser Erkenntnis geht die Verantwortung einher, so früh wie möglich einige gute Gewohnheiten zu etablieren und einige schlechte Gewohnheiten wieder abzulegen, um sich den Faktor Zeit zunutze zu machen. Manche Arten von Erfolg oder Ergebnis lassen sich nur mit mittels exponentieller Entwicklung über viele Jahre erzielen – je früher du die passenden Weichenstellungen vornimmst, umso besser.

Die Kehrseite der Medaille: Je länger du schlechte Gewohnheiten fortführst, umso heftiger musst du irgendwann gegensteuern, um den angerichteten Schaden wieder zu beheben und eine positive Entwicklung anzuschieben.

„Die Zeit verfielfacht das, was Sie tun. Bei guten Gewohnheiten ist sie Ihr Verbündeter, bei schlechten ihr Feind.“ (James Clear, „Die 1%-Methode“)

Aus diesem Blickwinkel betrachtet, sind insbesondere junge Menschen gut beraten, schon recht früh bewusst ein paar grundsätzliche Weichenstellungen vorzunehmen.

Auf der anderen Seite rate ich zu Gelassenheit. Sofern kein ernstes gesundheitliches Problem im Raum steht, sondern es „nur“ um Selbstverbesserung geht, ist Nachsicht mit dir selbst genauso wichtig wie Disziplin und ein systematischer Ansatz. Denn ein Selbstläufer ist diese ganze Selbstoptimierung nicht. Es braucht einen entspannten Umgang mit Rückschlägen und Sackgassen, sonst wird aus dem Versuch, mittels guter Gewohnheiten Stress zu vermeiden, eine neue Quelle von Stress.

Tipp: Nutze den Januar als Eingewöhnungszeit. Gerade wenn du versuchst, eine neue Routine oder einen neuen Ablauf zu etablieren, ist ein bisschen Zeit zum Experimentieren und Nachbessern hilfreich.

Ist es dir allerdings ernst mit der eigenen Weiterentwicklung, führt um ein einigermaßen systematisches, planvolles Vorgehen kaum ein Weg herum. Das bedeutet: Du brauchst

  1. eine Vorstellung davon, wie Erfolg aussieht (mehr dazu unter III),
  2. ggf. erreichbare Zwischenziele und
  3. eine Möglichkeit, verwertbares Feedback zu sammeln.

In diesem Zusammenhang rate ich – für alle, die mich schon eine Weile kennen, wenig überraschend – zu einer Art Entwicklungstagebuch. Als Inspiration für ein simples, aber völlig ausreichendes System empfehle dieses Video:

Ich nutze mein Bullet Journal zu diesem Zweck: Ich nehme mir Quartalsziele vor, die ich teils wöchentlichen und monatlichen Zwischenschritten sowie durch tägliche Gewohnheiten voranzutreiben versuche. Funktioniert dabei etwas nicht wie erwartet oder gewünscht, schreibe ich das auf und nehme nötigenfalls Änderungen vor.

Es kann aber auch reichen, regelmäßig mit einem Verbündeten über deine Fortschritte und Rückschläge zu sprechen und dir Ratschläge oder Arschtritte abzuholen, um auf Kurs zu bleiben oder zurückzukommen.


II) Vorbereitung durch Nachbereitung

Meint man es ernst mit der Selbstverbesserung, muss man zunächst sicherstellen, dass man sich die richtigen (oder zumindest keine eindeutig falschen) Entwicklungsschritte, Ziele oder Gewohnheiten vornimmt.

„Für jemanden, der nicht weiß, zu welchem Hafen er segelt, ist kein Wind vorteilhaft.“ (Seneca)

Die gute Nachricht: Man hat in den Aufzeichnungen des auslaufenden Jahres – in Chat-Verläufen, Mails und Kalender, im Tagebuch, in Fotos und Videos – alle nötigen Informationen zur Verfügung, um die eigene Entwicklung für das kommende Jahr vorauszuplanen.

Man muss diese Informationen allerdings „ernten“: Mit einem Annual Review.

Beim Annual Review wird das auslaufende Jahr systematisch aufgearbeitet.

Es gibt unzählige Varianten einer solchen Reflektion. Neben dem Ableiten von Erkenntnissen und Vorhaben für das neue Jahr können auch andere Ziele verfolgt werden, z.B. Erinnerungen auffrischen oder die eigene Dankbarkeit für Erfolge und schöne Momente erhöhen.

Starthilfe

Natürlich kannst du dir Format und Inhalt des eigenen Rückblicks selbst ausdenken.

Es gibt aber auch zahlreiche bewährte Vorlagen. Hier einige Beispiele:Der YearCompass bietet eine umfangreiche, schick gestaltete Vorlage für einen Jahresrückblick samt Ableitung von konkreten Vorhaben für das neue Jahr.

Du wirst in dem Dokument – verfügbar als A4- oder A5-Druckvorlage oder als PDF-Datei – durch den gesamten Prozess geleitet.

Um sich an einem Jahresrückblick zu versuchen, ist das wahrscheinlich ein guter Startpunkt. Leg’ einfach los, lass die Fragen weg, die dir nicht zusagen, und sammle deine ersten Erfahrungen mit einem Annual Review.

Weitere Inspiration

Falls du bereits Erfahrungen mit solchen Jahresrückblicken hast oder dir direkt einen eigenen zusammenstellen möchtest, hier einige Quellen für zusätzliche Inspiration:


Der Jahresrückblick von Tim Ferriss ist stark an der 80/20-Regel2 orientiert: Er geht seinen gesamten Kalender durch und sucht nach den 20% der Ereignisse, Aktivitäten und Menschen, die

  • zu 80% seiner positiven Momente sowie
  • zu 80% seiner negativen Momente

beigetragen haben.

Die Einträge auf der ersten Liste versucht er im kommenden Jahr häufiger zu wiederholen, die auf der zweiten Liste zu minimieren oder ganz zu eliminieren.


Ali Abdaal hat eine lange Liste von Reflektionsfragen, von denen er immer mindestens die folgenden drei beantwortet:

  • Wann und warum warst du dieses Jahr stolz auf dich?
  • Wenn du eine Erkenntnis aus diesem Jahr (die jemandes Lebensqualität erhöht) weitergeben müsstest, welche wäre das?
  • Was hat dich dieses Jahr vor Aufregung nicht schlafen lassen? War die Aufregung gerechtfertigt? Würdest du mehr davon tun wollen?

Darüber hinaus hat er viele weitere pfiffige Fragen gesammelt, die als Inspiration dienen können.


Der Jahresrückblick von James Clear ist dagegen enorm minimalistisch. Er beantwortet drei Fragen:

  • Was lief dieses Jahr gut?
  • Was lief dieses Jahres nicht so gut?
  • Worauf arbeite ich hin?

Unter dem Suchbegriff “Annual Review” sind zahllose weitere Anregungen zu finden.

Also: Nimm dir an einem der ruhigen Tage rund um den Jahreswechsel ein, zwei Stunden Zeit für dich. Leg‘ Papier und Stift bereit und durchstöbere alle Quellen, die dir einfallen.

Mit der Zielrichtung „bestmögliche Neujahrsvorsätze“ als Filter werden sich die passenden Einsichten von ganz allein herauskristallisieren.


III) Gute Vorsätze fassen und durchhalten

Die Vorarbeit ist erledigt – du solltest dir jetzt hinreichend sicher sein, in welche Richtung du dich im neuen Jahr entwickeln möchtest. Nun gilt es, die Wahrscheinlichkeit zu maximieren, dass du die beabsichtigte Verhaltensänderung so lange durchhältst, bis sie – je nach Absicht – als Gewohnheit zum selbstverständlichen Teil deines Alltags geworden ist oder du das erwünschte Ziel erreicht hast.

Schritt 1: Die Verhaltensänderung festlegen

Richtig: Die Verhaltensänderung. Singular.

Der häufigste Grund für das Scheitern von Neujahrsvorsätzen ist, dass man sich zu viele oder zu ambitionierte Dinge vornimmt. Oder zu viele ambitionierte Dinge.

Ein weiterer wichtiger Aspekt: Es ist viel besser, eine neue dauerhafte Gewohnheit einzuführen oder eine schlechte Angewohnheit loszuwerden, als sich ein konkretes Ziel vorzunehmen.3

Deine Vorsätze sollten also nur ein Vorsatz sein, der z.B. so aussehen kann:

“Bis zum Jahresende möchte ich …

  • … regelmäßigen Sport in meinen Alltag integriert haben” oder
  • … mit dem Rauchen aufgehört haben.”4

Fokussiere dich auf eine Neuerung, bis sie dir in Fleisch und Blut übergegangen ist.

Und nimm dir nach Möglichkeit kein konkretes Ziel (20 kg abnehmen / 20 Bücher lesen) vor, sondern konzentriere dich darauf, gute Gewohnheiten (regelmäßig Sport treiben / lesen) zu etablieren.

Schritt 2: Die Verhaltensänderung etablieren

Wie eben schon erwähnt, sollte dein Vorsatz nicht nur allein sein, sondern auch einige Zeit eingeräumt bekommen.

Der Schlüssel zur Veränderung deiner Gewohnheit sind viele kleine Schritte und Zwischenerfolge über einen langen Zeitraum.

Und wenn ich lange schreibe, meine ich lange. Nicht ein paar Wochen oder Monate, sondern viele Monate. Was irgendwie auch viele Wochen sind. Du verstehst schon.

Mit dieser Kontinuität ist Erfolg nicht garantiert – aber ohne sie ist Scheitern vorprogrammiert.

Du wirst die neue Verhaltensweise mit größerer Wahrscheinlichkeit über eine lange Zeit durchhalten, je mehr der folgenden Kriterien5 sie erfüllen:

a) einfach / offensichtlich

Eine neue Gewohnheit sollte dir so leicht fallen wie möglich. Das kann z.B. bedeuten:

  • Hindernisse minimieren (Sportoutfit oder Buch bereitlegen)
  • extra Zeit für die Handlung freihalten
  • neues an bestehendes Verhalten knüpfen (Stretching während des Zähneputzens; Lesen während der Bahnfahrt zur Arbeit)
  • mit extrem kleinen Schritten anfangen
  • an Tagen ohne Zeit oder Motivation weniger machen statt gar nichts

b) verlockend / befriedigend

Die neue Verhaltensweise sollte positive Empfindungen hervorrufen oder eine sofortige Belohnung mit sich bringen, sodass du dich sehr schnell darauf freust, ihr nachzukommen. Dazu kann z.B. beitragen:

  • Verbündete suchen (accountability buddyTeil einer Gruppe werden, in der das beabsichtigte Verhalten erwartet wird)
  • eine wirklich verlockende Belohnung nur bei/nach Ausführung des Verhaltens (Hörbuch nur während des Workouts; Lieblings-Getränk aus dem Lieblings-Café nur beim Lesen)

Endstufe: Ein neues Selbstbild etablieren („Ich bin Sportler/Bücherwurm“), sodass jede Ausführung des gewünschten Verhaltens selbstbelohnend wird.6

Zur Abgewöhnung einer schlechten Gewohnheit braucht es dementsprechend die Umkehrung dieser Kategorien:

a) schwierig / unsichtbar

  • Süßigkeiten gar nicht erst einkaufen
  • Social Media-Apps vom Handy deinstallieren
  • Selbstbindungen etablieren oder Hindernisse einbauen (Blocker-Apps und Browser-Erweiterungen zur Konsum-Einschränkung; das Handy oder die Zigaretten in einen Küchensafe einschließen; das Stromkabel vom Fernseher in einem anderen Raum verstauen)

b) unattraktiv / unbefriedigend

  • Anzeige der täglichen Bildschirmnutzung auf den Startbildschirm am Handy
  • eine Wette mit wirklich unangenehmem Einsatz (Geldbetrag / peinliche Strafe) abschließen

Ich wünsche dir maximale Erfolge bei der Selbstformung
und die nötige Mischung aus Nachsicht und Disziplin, die es dafür braucht.


Fußnoten:

1. “This study prospectively tracked the self-change attempts of 200 New Year’s resolvers over a 2-year period in order to more fully understand the coping determinants of maintenance and the natural history of lapses and relapses. Seventy-seven percent maintained their pledges for 1 week but only 19% for 2 years.” (Quelle)

2. Auch als Pareto-Prinzip bekannt; Kernaussage: 80% eines Ergebnisses oder Erfolgs werden von nur 20% des Inputs oder Aufwands erzeugt; die restlichen 80% Aufwand sorgen nur noch für maximal 20% bessere Ergebnisse.

3. Dieser (englische) Artikel (ein Auszug aus “Die 1%-Methode”) erläutert, warum.

4. Laut J. Clear sind die besten Gewohnheiten die, die auf eine langfristige Änderung der eigenen Identität hinwirken; das Thema würde hier aber zu weit führen. Ich habe über diese identity-based habits hier schon einmal geschrieben. Clear hat den relevanten Auszug aus seinem Buch hier (auf Englisch) veröffentlicht.

5. Das ist meine Synthese der “Vier Gesetze der Verhaltensänderung” aus “Die 1%-Methode”, da ich jeweils zwei der eigentlich vier Kategorien ein Stück weit für redundant halte. Hier ein kurzer Video-Zusammenschnitt aus diversen Interviews, in denen J. Clear diese erläutert.

6. siehe Fußnote 4