Der Dunning-Kruger-Effekt

 

„The fundamental cause of the trouble is that in the modern world the stupid are cocksure while the intelligent are full of doubt.“

(Bertrand Russel, „The Triumph of Stupidity“)


Das Paper, das den „Dunning-Kruger-Effekt“ aus der Taufe hob, wurde 1999 im Journal of Personality and Social Psychology unter dem Titel „Unskilled and Unaware of It: How Difficulties in Recognizing One’s Own Incompetence Lead to Inflated Self-Assessments” veröffentlicht. Darin werden die Ergebnisse von vier Einzelstudien vorgestellt, diskutiert und zusammengeführt.

In den vier Studien wurden unterschiedlich große Gruppen von Studenten in den Kompetenzbereichen Humor, Grammatik (jeweils 1x) sowie Logik (2x) getestet und anhand ihrer Leistungen in vier Gruppen eingeteilt.

Nach jedem Test wurden die Probanden gebeten,

  • ihre eigenen Leistungen,
  • ihre generelle Fähigkeit im Vergleich zu Gesamtbevölkerung sowie
  • ihr Abschneiden in Relation zu den anderen Teilnehmern

zu bewerten.

In zwei der vier Studien sollten außerdem Teilnehmer aus der schwächsten und der stärksten Leistungsgruppe die Testbögen anderer Probanden aus diesen beiden Leistungsgruppen begutachten.

Schließlich bekamen in der vierten Studie besonders leistungsschwachen Teilnehmer ein 10-minütiges Intensiv-Training in der geprüften Logik-Disziplin, bevor sie ihre eigene und fremde Leistungen einschätzen sollten.


„Der Dunning-Kruger-Effekt“

Die wichtigste und überraschendste Erkenntnis: Den Dunning-Kruger-Effekt gibt es in dieser singulären Bezeichnung nicht. Dunning spricht in einem Interview von einer „Familie von Effekten“.

In der Publikation von 1999 überprüfen und – um das Ergebnis vorwegzunehmen – bestätigen die namensgebenden Sozialpsychologen David Dunning und Justin Kruger gleich vier Vorhersagen. Daneben wurde ein fünfter Aspekt zufällig nachgewiesen.

Nur eine – genauer gesagt die erste – dieser Vorhersagen und deren Überprüfung beschäftigen sich mit dem Phänomen, das üblicherweise als „Dunning-Kruger-Effekt“ bezeichnet wird. Daher verwende ich dafür im weiteren Verlauf des Artikels die Bezeichnung „Dunning-Kruger-Effekt I“.

Unbemerkte Selbstüberschätzung: Dunning-Kruger-Effekt I

Diese erste These lautet: Besonders leistungsschwache Menschen überschätzen ihre eigene Kompetenz im Abgleich mit objektiven Anhaltspunkten dramatisch. Diese Annahme wurde in allen vier Studien als erstes überprüft.

Schon aus diesen ersten Grunddaten – hier beispielhaft dargestellt anhand der Grafiken aus der Humor- und der ersten Logik-Studie – konnten die Psychologen einige wiederkehrende Erkenntnisse ableiten:

  • Besonders leistungsschwache Teilnehmer (unterstes Viertel) überschätzten ihre Leistung nicht nur drastisch (blaue Linien), sondern
  • sehr viel drastischer als Teilnehmer im Mittelfeld (zweites und drittes Viertel).
  • Grundsätzlich stieg mit der tatsächlichen Kompetenz auch die Präzision der Selbsteinschätzung (orange Linien).

Selbst für die Studienleiter war die Abweichung zwischen der eigentlichen und der angenommenen Leistung der leistungsschwächsten Teilnehmer (blaue Linien) erstaunlich groß.

Die erste Annahme – eine der Selbstreflexion unzugängliche Imkompetenz besonders unfähiger Menschen – war damit deutlich bestätigt. Der „Dunning-Kruger-Effekt“ war geboren.1Allerdings zunächst nicht unter diesem Namen – siehe Trivia.

Wichtig ist dabei ein Aspekt, der im Wort „unzugänglich“ anklingt: Nach Überzeugung von Dunning und Kruger können inkompetente Menschen das Maß ihrer Inkompetenz unmöglich erfassen. In dem Paper ist in diesem Zusammenhang von einer „doppelten Bürde“ („dual burden“) die Rede: Besonders inkompetente Menschen ziehen aufgrund ihres Kompetenzmangels nicht nur falsche Schlüsse oder treffen problematische Entscheidungen. Ihnen fehlt gleichzeitig – unvermeidlicher Weise – auch die Möglichkeit, das überhaupt zu erkennen.

Der Dunning-Kruger-Effekt I umfasst also nicht nur eine unerkannte, sondern eine für den Betroffenen unerkennbare Selbstüberschätzung. Denn, so die beiden Psychologen, für das Erbringen korrekter Ergebnisse bzw. guter Leistungen seien dieselben Kompetenzen nötig wie für das korrekte Einschätzen von Ergebnissen bzw. der Güte von Leistung.

Das führt zum zentralen Gegenstand der Forschung von Dunning und Kruger:

Metakognition – Der eigentliche Kern der Studie

Die herausragenden Bedeutung der Metakognition im Gesamtbild der Arbeit von Dunning und Kruger ist eine weitere entscheidende Erkenntnis aus meiner Recherche . Während der Dunning-Kruger-Effekt I der mit Abstand bekannteste Aspekt ist, ist die Metakognition der eigentliche Dreh- und Angelpunkt ihrer Forschung.

Grob gesagt wird die Metakognition definiert als die Fähigkeit zur Reflektion, Evaluation und Regulation eigener Denkprozesse. Sie ist der von Dunning und Kruger vertretene Erklärungsansatz für die Ergebnisse ihrer Studie.2Auf das Thema Erklärungsansätze gehe ich im nächsten Text umfangreicher ein.

Auf diesen Forschungsgegenstand entfallen daher auch die verbleibenden drei Vorhersagen:

  • Leistungsschwache Teilnehmer sind sehr viel schlechter darin, fremde Kompetenz zu erkennen, als leistungsstarke.
  • Dadurch wird die Fähigkeit, nach Betrachten fremder Leistungen das eigene Abschneiden korrekt einzuschätzen, bei den unfähigsten Teilnehmern weniger stark zunehmen als bei den fähigsten.
    • Diese Hypothesen wurden geprüft (und bestätigt), indem Teilnehmer aus dem untersten und dem obersten Leistungs-Viertel Testbögen von anderen Probanden aus diesen beiden Gruppen begutachten sollten. Dadurch konnten sie ihre eigenen Antworten mit denen anderer Teilnehmer vergleichen, was eine metakognitive Leistung ist.
      Anschließend sollten diese Teilnehmer nochmals beurteilen, wie gut oder schlecht sie abgeschnitten hatten.
  • Werden die Fähigkeiten der inkompetentesten Teilnehmer im jeweils geprüften Wissensbereich gesteigert, verbessert sich auch die Präzision der Selbst- und Fremdeinschätzung (also die metakognitiven Fähigkeiten).3Paradoxerweise können diese Teilnehmer dann aber nicht mehr als inkompetent gelten.
    • Hier erhielten besonders leistungsschwache Probanden einen Crash-Kurs in der getesteten Logik-Disziplin, nachdem sie den Test selbst absolviert hatten und bevor sie die eigenen Leistungen einschätzen sollten. Eine Kontrollgruppe bekam dagegen kein Training.

Fehlt noch der zu Beginn erwähnte Zufallsfund. Dem aufmerksamen Betrachter der beiden Grafiken wird er womöglich schon aufgefallen sein. Die Daten aus den diversen Studien zeigten durchgehend: Die leistungsstärksten Probanden unterschätzten ihre eigene Leistung systematisch (grüne Linien).

Diese Selbstunterschätzung der Kompetentesten war zwar durchgehend weniger markant als die Selbstüberschätzung der Leistungsschwächsten, aber sie trat genauso verlässlich auf.

Zusammenfassung

Was an der landläufigen Darstellung des Dunning-Kruger-Effektes ist falsch, unvollständig oder irreführend?

Den Dunning-Kruger-Effekt gibt es streng genommen nicht. Die Bezeichnung hat sich aber durchgesetzt, um den landläufig bekanntesten Forschungsgegenstand von Dunning und Kruger zu umschreiben: Besonders inkompetente Menschen überschätzen ihre eigenen Fähigkeiten systematisch und drastisch.

Daneben gibt es weit verbreitete, aber unzutreffende Darstellungen des Dunning-Kruger-Effektes I als Selbstüberschätzung von Anfängern oder unintelligenten Menschen.4daher der Name „Mount Stupid“; mehr dazu unter „Trivia und Wissenswertes“ Tatsächlich betrifft er aber generell Menschen mit wenig Kompetenz, unabhängig von Intelligenz oder Dauer der Auseinandersetzung mit einem Thema.5was an Kompetenzbereichen wie denen aus dem Dunning-Kruger-Paper – Humor, Grammatik und Logik – deutlich wird: Alle drei Kompetenzen nutzt man meist über Jahre hinweg auf unverändertem Level

 

Was wurde in der ursprünglichen Studie von Daniel Dunning und Justin Kruger genau untersucht?

Die Ursprungsarbeit von Dunning und Kruger zu diesem Thema untersuchte (in vier Studien, nicht nur einer) neben der erwähnten Selbstüberschätzung leistungsschwacher Menschen insbesondere diverse Aspekte der Fähigkeit, eigene Denkprozesse zu reflektieren – der Metakognition.
Gezeigt wurde unter anderem, dass mit besonders niedriger Kompetenz ein besonders niedriges Maß an metakognitiven Fähigkeiten zur

  • Einschätzung von fremder Kompetenz und daraus folgend zur
  • Verbesserung der Selbsteinschätzung nach dem Vergleich mit fremden Leistungen

einherging. Dagegen profitierten die Fähigkeit zur Selbsteinschätzung der leistungsstarken Teilnehmer vom Abgleich der eigenen mit fremden Leistungen.

Zufällig belegten die Datensätze aus den insgesamt vier Studien auch eine systematische Selbstunterschätzung von besonders kompetenten Probanden. Selbst nach Abgleich eigener mit fremden Leistungen verorteten die Leistungsträger der Studien sich immer noch – wenn auch weniger – deutlich unter ihrem tatsächlichen Platz im Teilnehmerfeld.


Alltagsrelevanz und -beispiele

Der Dunning-Kruger-Effekt I ist eine universelle kognitive Verzerrung und wurde seit dem ursprünglichen Paper von 1999 in diversen Kompetenzbereichen nachgewiesen. Dementsprechend deutlich wirkt er sich auf unser aller Alltag aus. Hier einige besonders relevante Beispiele, die Dunning selbst genannt hat:

Fahrsicherheit

Fahranfänger überschätzen nach Absolvieren eines einmaligen Fahrsicherheitstrainings ihre eigenen Fähigkeiten beim Führen eines Fahrzeuges in Gefahrensituationen oder bei schlechten Witterungsbedingungen deutlich.
Das Risiko, das damit einhergeht, ist offensichtlich. Tatsächlich wird laut Dunning in der Fachwelt diskutiert, ob solche Trainings überhaupt durchgeführt werden sollten. Es könnte zielführender sein, stattdessen im Rahmen der normalen Fahrschule lediglich für besondere Gefahrensituationen zu sensibilisieren.

Moralische Selbstüberschätzung

Der Dunning-Kruger-Effekt I beschränkt sich aber nicht nur auf motorische oder intellektuelle Kompetenzen. Er wirkt selbst im Bereich von Moral und Ethik:

In einem Interview beschrieb Dunning, dass beispielsweise beim Einhalten von Verkehrsregeln oder bei Akten der Großzügigkeit die meisten Menschen deutlich überschätzen, wie moralisch sie sich tatsächlich verhalten werden.

“people wildly overestimate themselves. And that is they overestimate how moral, ethical and good they will be relative to what they think about other people.”

Alltagsignoranz

Dunning hat aus der Forschung zur unvermeidlichen Selbstüberschätzung die Idee der „pockets of ignorance“ abgeleitet. Ihm zufolge treffen wir täglich viele Entscheidungen mit der erforderlichen Kompetenz – und viele weitere in völliger oder weitgehender Ignoranz der Materie.

Der entscheidende Punkt ist laut Dunning: Die Grenze zwischen Kompetenz und Inkompetenz werde völlig unbemerkt überschritten.

Informiert und ignorant getroffene Entscheidungen fühlen sich gleich an, weil man die eigene Unwissenheit nicht erfassen kann, sondern sich als hinreichend informiert erlebt. Und – wie eingangs erläutert – fehlt es zugleich auch an der notwendigen Kompetenz, um die „Ignoranzgrenze“ überhaupt zu erkennen.

Hier ein Originalzitat von Dunning mit leichten Anpassungen zur besseren Lesbarkeit:

“There’s a borderline between what we know and what we don’t know. […] that border happens real quick, and it happens well within the geography of our everyday life.

So that often we’re acting out of knowledge, but often we’re acting out of ignorance – and just don’t know it. We’ve crossed that borderline between what we know and what we don’t know. […]

But here’s the thing […] that our research suggests is the most true: The one thing we definitely don’t know is where that borderline is. […] And so we’re stepping over it all the time, rather confidently, and stepping back from it. And we don’t know when we’re doing that.

And that starts to create a number of problems. First in judging our own expertise at anything. But also judging the quality of our decisions in everyday life.”
(You Are Not So Smart-Podcast Folge 36)

Unternehmertum

Die Selbstüberschätzung, die den Dunning-Kruger-Effekt auszeichnet, hat auch ihre positiven Seiten. Ohne das (häufig ungerechtfertigte) Vertrauen in die eigene Kompetenz wären zahllose Unternehmen nie gegründet, Versuche mit unklarem Ausgang nie gewagt, Bücher nie geschrieben worden.

Wir verdanken der menschlichen Neigung, sich selbst für weit kompetenter zu halten als man eigentlich ist, also vermutlich eine große Zahl an wertvollen Innovationen, wundervollen Kunstwerken und anderen Kulturschätzen, deren Urheber zunächst gar nicht wissen konnten, dass sie die notwendigen Fähigkeiten dafür noch gar nicht hatten.

„Bis zu einem gewissen Punkt wirkt Selbstsicherheit wie eine selbsterfüllende Prophezeiung“ (Paul Graham, Fierce Nerds (paulgraham.com)


Trivia und Erwähnenswertes

Experten und der Dunning-Kruger-Effekt I

Laut Dunning sind Wissenschaftler und andere Fachleute jenseits ihrer Expertise grundsätzlich genauso anfällig für unbemerkte Selbstüberschätzung. Allerdings sorge umfangreicher Wissenserwerb auch für die Erlangung grundlegender metakognitiver Fähigkeiten. Daher gehe er davon aus, dass Experten insgesamt weniger anfällig für den Dunning-Kruger-Effekt I sind.

„But I wore the juice!“

Eine Anekdote, die Dunnings Interesse an der Thematik weckte – und mit der sogar die ursprüngliche Studie von 1999 eingeleitet wird – ist die des Bankräubers McArthur Wheeler. Dieser beging mehrere Raubüberfälle am helllichten Tag, ohne sein Gesicht in irgendeiner Form unkenntlich zu machen. Wenig überraschend wurde er mithilfe der Überwachungsaufnahmen durch die Polizei identifiziert und festgenommen. Dabei soll er ungläubig erwidert haben: „Aber ich habe doch den Saft getragen!“

Wie sich herausstellte, war Wheeler fest davon überzeugt, ein mit Zitronensaft eingeschmiertes Gesicht wäre für Kameras unsichtbar. Erschwerend kam hinzu, dass er diese abenteuerliche Theorie testete, indem er sein Gesicht wie angewiesen behandelte und dann ein Polaroid-Bild von sich selbst machte – auf dem tatsächlich nur eine Wand zu sehen war. Sein Irrtum konnte später aufgeklärt werden: Er hatte mit der Kamera schlicht an sich vorbeigezielt.

Namensgebung

David Dunning und Justin Kruger sind zwar die namensgebenden Forscher, aber die Bezeichnung „Dunning-Kruger-Effekt“ ist nicht von ihnen. Bevor sich dieser Name durchsetzte, war auch die Bezeichnung „American-Idol-Effect“ – in Anspielung auf die zahllosen selbstsicheren, aber erkennbar inkompetenten Bewerber in der Talentshow – im Umlauf.

“Is a Little Learning A Dangerous Thing?”

Die internet-weit bekannte „Mount Stupid“-Kurve, die ich in meinem letzten Artikel und auch für das Titelbild meines Blogs verwendet habe, stammt weder aus der ursprünglichen Arbeit zum Dunning-Kruger-Effekt noch aus einer Folgestudie – oder irgendeiner anderen wissenschaftlichen Arbeit. Sie ist lediglich ein Internet-Meme aus einer Zeit, in der es noch keine Internet-Memes gab.6Die Quelle dieser verbreiteten Kurve ist allem Anschein nach nicht mehr nachzuvollziehen.

Diese Grafik illustriert den Dunning-Kruger-Effekt auch nicht korrekt: Wie oben dargelegt (orange Linien in der Grafik aus dem Original-Paper), nimmt mit zunehmendem Wissen das Selbstvertrauen nicht plötzlich und schlagartig ab, sondern tendenziell weiter zu. Dabei verkleinert sich die Lücke zwischen der tatsächlichen und der angenommenen Kompetenz.

Kulturelle Unterschiede

Ein interessanter, aber von mir nicht weiter verfolgter Aspekt, ist der kulturelle Einfluss auf den Dunning-Kruger-Effekt I. Dunning erwähnt in einem Interview, dass sich in verschiedenen Kulturkreisen deutliche Unterschiede bei der Fähigkeit zur Selbsteinschätzung zeigen würden.

  • 1
    Allerdings zunächst nicht unter diesem Namen – siehe Trivia.
  • 2
    Auf das Thema Erklärungsansätze gehe ich im nächsten Text umfangreicher ein.
  • 3
    Paradoxerweise können diese Teilnehmer dann aber nicht mehr als inkompetent gelten.
  • 4
    daher der Name „Mount Stupid“; mehr dazu unter „Trivia und Wissenswertes“
  • 5
    was an Kompetenzbereichen wie denen aus dem Dunning-Kruger-Paper – Humor, Grammatik und Logik – deutlich wird: Alle drei Kompetenzen nutzt man meist über Jahre hinweg auf unverändertem Level
  • 6
    Die Quelle dieser verbreiteten Kurve ist allem Anschein nach nicht mehr nachzuvollziehen.